Probleme des Lebensschutzes waren lange Zeit kein Gegenstand der Sozialethik. Dies gilt für die klassischen Probleme Abtreibung und Euthanasie, die es gibt, seit es Menschen gibt. Es gilt aber auch für die modernen Probleme der Kryokonservierung von Embryonen, der Präimplantationsdiagnostik, des Klonens und der embryonalen Stammzellforschung. Dies war verständlich, solange die Rechts- und Verfassungsordnungen der zivilisierten Staaten Abtreibung und Euthanasie als Verstöße gegen das Menschenrecht auf Leben verboten haben. Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts aber hat sich dies grundlegend geändert. Zahlreiche Staaten haben das Abtreibungsverbot und manche, wie Belgien und die Niederlande, auch das Euthanasieverbot gelockert oder ganz aufgehoben. Nachdem sich die künstliche Befruchtung in den 80er Jahren nahezu weltweit ausbreitete und zu zahllosen kryokonservierten, so genannten „überzähligen“ Embryonen führte, die keine Chance mehr auf einen Transfer in eine Gebärmutter haben, und nachdem es 1998 erstmals gelang, embryonale Stammzellen zu isolieren, legalisierten viele Staaten auch die Forschung mit embryonalen Stammzellen, das (therapeutische) Klonen und die Präimplantationsdiagnostik. Forschung mit embryonalen Stammzellen aber bedeutet die Tötung des Embryos. Die Gesetzgeber degradierten damit den „überzähligen“ Embryo zu einem biomedizinischen Rohstoff und beraubten das Verbot privater Gewaltanwendung und der Tötung unschuldiger Menschen seiner Verbindlichkeit.
Trotz dieser gravierenden Veränderung der rechtlichen und gesellschaftlichen Lage fährt die Christliche Gesellschaftslehre einstweilen fort, die Probleme des Lebensschutzes zu ignorieren. Die akademische Sozialethik konzentriert sich weiterhin auf ihre klassische Agenda, die Probleme der Wirtschaftsordnung und der Globalisierung, der sozialstaatlichen Entwicklung und des Arbeitsmarktes, der Demokratie und der Zivilgesellschaft, der Entwicklung der Dritten Welt und der Friedenssicherung.[1] Sie hat den Appell noch nicht aufgegriffen, den Papst Johannes Paul II. schon 1991 an die Kirche richtete. Er sprach in einem Brief an alle Bischöfe, in dem er um deren Mitarbeit bei der geplanten Enzyklika zum Schutz des menschlichen Lebens bat, davon, dass die Kirche immer jene Menschen in Schutz nehme, die in ihren fundamentalsten Rechten unterdrückt werden. Vor einem Jahrhundert sei dies die Arbeiterklasse gewesen. Heute werde „eine andere Kategorie von Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt“, weshalb die Kirche verpflichtet sei, „mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein“.[2] In der Enzyklika Evangelium Vitae wiederholte er 1995 diesen Appell. Wie sich die Kirche am Ende des 19. Jahrhunderts der Arbeiterklasse angenommen habe, so habe sie sich am Ende des 20. Jahrhunderts der ungeborenen Kinder anzunehmen.[3] Die Christliche Gesellschaftslehre aber neigt weiterhin dazu, die theologische Bearbeitung der Probleme des Lebensschutzes der Moraltheologie zu überlassen.
Die Betrachtungsweise der Moraltheologie aber ist eine andere als die der Christlichen Gesellschaftslehre. Die Moraltheologie fragt in einer individual- und tugendethischen Perspektive nach den Gründen für das Verbot von Abtreibung und Euthanasie, für die Schutzwürdigkeit des Embryos und des Sterbenden. Sie diskutiert die Zugehörigkeit des Embryos, auch des Embryos in vitro, zur biologischen Spezies Mensch, die Kontinuität seiner Entwicklung von der Empfängnis an als Mensch und nicht zum Menschen, seine Identität in allen Lebensphasen und seine Potentialität, sich vom Augenblick der Zeugung an als Mensch zu entfalten. Sie diskutiert also jene Gründe, die dafür sprechen, dass der Embryo Person ist und den Staat zu seinem Schutz verpflichtet.
Die gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen erlauben es der Christlichen Gesellschaftslehre aber nicht länger, die Probleme des Lebensschutzes nur als Randproblem zu behandeln. Sie hat gegenüber der Lockerung bzw. Aufhebung des Abtreibungs- und Euthanasieverbotes und der Legalisierung der embryonalen Stammzellforschung die zentrale Legitimitätsbedingung eines demokratischen Rechtsstaates zur Geltung zu bringen: das Verbot privater Gewaltanwendung und der Tötung unschuldiger Menschen. Wenn im Abtreibungsstrafrecht weltweit das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren über das Lebensrecht des Kindes gestellt, mithin privater Gewalt zur Konfliktlösung der Weg geebnet wird, hebt sich der Rechtsstaat selbst auf. Die Aufhebung dieses Tötungsverbotes auch noch rechtsstaatlich regeln zu wollen, ist ein Widerspruch in sich. Ein Rechtsstaat kann die Zerstörung seiner Konstitutionsbedingung nicht rechtsstaatlich regeln. Dies ist der Grund, weshalb die Debatten um die Legalisierung der Abtreibung nie an ein Ende kommen werden.
Johannes Paul II. hat diese Entwicklung in seiner Enzyklika Evangelium Vitae mehrfach thematisiert. Entscheidungen, die einstimmig als Verbrechen betrachtet wurden, würden nun nicht nur toleriert, sondern für rechtmäßig erklärt und vom staatlichen Gesundheitssystem bezahlt. Darin komme nicht nur ein schwerer moralischer Verfall, sondern die „Struktur der Sünde“ zum Ausdruck, die zu einer irreparablen Schädigung des Gemeinwohls und einer „Kultur des Todes“ führe.[4] „Kultur des Todes“ ist ein sperriger Begriff. Sie hat nichts zu tun mit der ars moriendi, jener Kunst des Sterbens eines reifen Menschen, der dem Tod ebenso bewusst wie gelassen entgegen geht. Sie hat auch nichts zu tun mit Mord und Totschlag, die es unter Menschen gibt, seit Kain seinen Bruder Abel erschlug, auf denen aber immer der Fluch des Verbrechens lag. „Kultur des Todes“ meint vielmehr ein Verhalten einerseits und gesellschaftliche sowie rechtliche Strukturen andererseits, die bestrebt sind, das Töten gesellschaftsfähig zu machen, indem es als medizinische Dienstleistung und als Sozialhilfe getarnt und mit dem Mantel der Legalität umkleidet wird. Sie ist somit nicht nur ein Angriff auf einzelne Menschen, die der Gefahr der Abtreibung oder der Euthanasie ausgesetzt sind, sondern ein tödliches Gift für die rechtsstaatliche Demokratie.
Wenn sich die Kirche dieser Entwicklung in den Weg stellt, wenn sie „die unbedingte Achtung vor dem Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen – von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod – zu einer der Säulen erklärt, auf die sich jede bürgerliche Gesellschaft stützt, 'will sie lediglich einen humanen Staat fördern. Einen Staat, der die Verteidigung der Grundrechte der menschlichen Person, besonders der schwächsten, als seine vorrangige Pflicht anerkennt'“.[5] Wenn die Verteidigung des Lebensrechtes ihren Focus somit auf den humanen Staat, die bürgerliche Gesellschaft und die Bedingungen der rechtsstaatlichen Demokratie richtet, dann kann sich die katholische Soziallehre der Problematik des Lebensschutzes nicht entziehen, fragt sie als Sozialethik doch immer nach den gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für das Gelingen des menschlichen Lebens. Benedikt XVI. hat in seiner ersten Sozialenzyklika Caritas in Veritate den engen Zusammenhang von Sozialethik und Ethik des Lebensschutzes mehrfach unterstrichen.[6]
Die Versuche, Abtreibung zu legalisieren, begannen Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Großbritannien und in den skandinavischen Ländern. In den 70er Jahren erfassten sie ganz Westeuropa.[7] In den kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas galt Abtreibung als Methode der Geburtenregelung und als „Recht“ der Frau. Die Legalisierungskampagnen in Westeuropa bedienten sich meist des gleichen Begründungsmusters: illegale Abtreibungen führten zu zahlreichen Todesfällen unter den schwangeren Frauen. Durch die Legalisierung könnten die Vorgänge transparent gemacht und sowohl die Mütter als auch die Kinder besser geschützt werden, weil die Abtreibungen in professionelle ärztliche Hände gelegt und auch Hilfen für die Schwangere und ihr Kind angeboten werden könnten. So könnten auch die Abtreibungszahlen gesenkt werden.
Um das Ziel der Legalisierung zu erreichen, wurden meist horrende Abtreibungszahlen und ebenso horrende Zahlen für die Todesfälle unter den Schwangeren präsentiert. Der „Stern“ behauptete in seiner Kampagne zur Abschaffung des § 218 StGB am 2. Juni 1971: „Jährlich treiben in der Bundesrepu-blik rund eine Million Frauen ab“. Seriöse Schätzungen dagegen gingen von ca. 100.000 Abtreibungen jährlich aus. Als die Krankenkassen vor der Einführung der Krankenkassenfinanzierung der Abtreibungen 1974 wissen wollten, mit wie vielen Fällen jährlich zu rechnen sei, nannte die sozialliberale Bundesregierung die Zahl 75.000 bis 80.000.[8] Auch in den USA wurde die Zahl der illegalen Abtreibungen Anfang der 70er Jahre um das zehnfache überhöht, wie Bernhard Nathanson nach seiner Wende vom führenden Abtreibungsarzt in New York zum vehementen Abtreibungsgegner bekannte.[9] Bei der Schätzung der Zahl der Schwangeren, die durch illegale Abtreibungen zu Tode gekommen sein sollen, überschritten die Übertreibungen die Grenze zur Peinlichkeit, wenn für die 60er Jahre 15.000 bis 20.000 Todesfälle jährlich behauptet wurden, die Sterbestatistik beispielsweise für 1967 unter Berücksichtigung aller Todesursachen aber nur 12.957 Todesfälle bei Frauen im gebärfähigen Alter zwischen 15 und 44 Jahren auswies.[10] Der Vertreter des Bundesjustizministeriums sprach vor dem Sonderausschuss des Bundestages zur Strafrechtsreform 1974 von „zuletzt 21 Todesfällen als Folge illegaler Schwanger-schaftsabbrüche pro Jahr“.[11]
Die Kritik an den maßlosen bis abwegigen Schätzungen konnte die Legalisierung der Abtreibung nirgends aufhalten. Die Abtreibungsmentalität verbreitete sich parallel zur Verbreitung der hormonellen Empfängnisverhütung. Die Pille erwies sich nicht als die viel beschworene Alternative, sondern geradezu als Katalysator der Abtreibungsmentalität. Sie suggeriert bis heute die perfekte Beherrschbarkeit der Fruchtbarkeit und fördert bei Versagen die Bereitschaft, in der Abtreibung einen Notausgang aus der unerwünschten Lage zu sehen. Gynäkologische Vergleichs-studien unter Wöchnerinnen legen einen signifikanten Zusammenhang zwischen Methoden der Empfängnisregelung und der Abtreibungshäufigkeit nahe.[12]
Die Rechtsfragen des Lebensschutzes sind in allen demokratischen Rechtsstaaten ein Legitimitätsstachel. Wie kann ein Staat Legitimität, d. h. Gehorsam für seine Rechtsordnung, beanspruchen, der eine bestimmte Gruppe von Menschen aus der Rechtsgemeinschaft ausschließt? Wie kann er Legitimität beanspruchen, wenn er das Verbot, seine eigenen Interessen mit Gewalt gegen Unschuldige durchzusetzen und um dieser Interessen willen Unschuldige zu töten, aufhebt? Wie kann er schließlich Legitimität beanspruchen, wenn er dem Hobbes’schen bellum omnium contra omnes den Weg ebnet und die tödliche Gewalt gegen Unschuldige auch noch legalisieren will?
Ein Gesetz, das die Abtreibung legalisiert, verstößt nicht nur gegen das Lebensrecht des Ungeborenen, sondern auch gegen das Gemeinwohl. Es hat, schreibt Johannes Paul II. in Evangelium Vitae, „nicht den Charakter eines Gesetzes, sondern vielmehr den einer Gewalttätigkeit“.[13] Den Charakter eines Gesetzes könne es nur haben, „insoweit es vom Naturgesetz abgeleitet wird. Wenn es aber in irgendetwas von dem Naturgesetz abweicht, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern die Zersetzung des Gesetzes sein“.[14] Ein Gesetz, das die Abtreibung legalisiert, kann deshalb nicht zum Gehorsam verpflichten. Es verpflichtet vielmehr zum Widerstand. Schon 1974, am Anfang der Legalisierungsversuche, erklärte die Glaubenskongregation: „Was immer die staatlichen Gesetze in dieser Sache festlegen, es kann keine Diskussion darüber geben, dass der Mensch nie einem Gesetz gehorchen kann, das in sich unmoralisch ist. Dies trifft zu, wenn ein Gesetz beschlossen wird, das die Abtreibung grundsätzlich erlaubt…Er kann sich außerdem nicht…an einer öffentlichen Meinungskampagne beteiligen, die ein solches Gesetz begünstigt, noch kann er es bei Abstimmungen durch seine Stimme unterstützen. Er kann auch nicht bei der Anwendung eines solchen Gesetzes mitwirken.“[15]
Die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen des Lebensschutzes sind schon bald nach der Reform des Abtreibungsstrafrechts 1995 im Hinblick auf die Spätabtreibungen wieder in Frage gestellt worden. Spätabtreibungen sind alle Abtreibungen jenseits der 12. Woche. Meistens aber werden nur die Abtreibungen im letzten Drittel einer Schwangerschaft als Spätabtreibungen bezeichnet. In dieser Phase ist der Fötus auch außerhalb der Gebärmutter bereits lebensfähig. Je nach der Abtreibungsmethode kann er eine Abtreibung überleben. In den USA hat die Abtreibungsdiskussion durch die Spätabtreibungen eine Wende erfahren. Mit dem Partial Birth Abortion Ban Act von 2003 hat der Kongress nur die grausamste Methode der Spätabtreibung, bei der das Kind während des Geburtsvorgangs durch Absaugen des Gehirns gezielt getötet wird, verboten. Der Supreme Court hat dieses Gesetz im April 2007 als verfassungskonform bestätigt. Die Debatte über die Spätabtreibungen hat darüber hinaus das Klima in der amerikanischen Öffentlichkeit zugunsten des Lebensschutzes verändert. Die katholische Kirche spielt in diesen Auseinandersetzungen eine führende Rolle.[16] Ihr Einsatz auf dem Feld der Politik und der Auseinandersetzung mit Präsidentschafts-, Gouverneurs- und Parlaments-kandidaten,[17] ihre Aufklärungsarbeit in der Gesellschaft durch die Pro Life-Sekretariate der Bischofskonferenz und der einzelnen Diözesen und auch ihr pastoraler Einsatz für den Lebensschutz, aber auch für Frauen, die abgetrieben haben, all dies ist überaus eindrucksvoll trotz der Konflikte, die es auch unter amerikanischen Katholiken und ihren Bischöfen gibt – z. B. in der Frage, ob Politikern, die in der Abtreibungsgesetzgebung die Lehre der Kirche missachten, die Kommunion gespendet werden darf. Die Erfahrungen in den USA, aber auch in einigen europäischen Ländern wie Polen, Malta, Italien oder jüngst die Niederlande zeigen, dass die Kultur des Todes kein unabwendbares Schicksal ist. Rechtsordnungen spiegeln nicht nur – gleichsam notariell – gesellschaftliche Trends, sie vermögen auch, diese Trends zu beeinflussen, ja sogar zu wenden.
In Deutschland war die Euthanasie jahrzehntelang tabu, weil sie während der Herrschaft der Nationalsozialisten in großem Stil betrieben wurde. Sie war Teil der nationalsozialistischen Rassenideologie und zielte auf die Beseitigung von Behinderten, unheilbar Kranken und Schwachen, deren Leben als lebensunwert und die Volksgemeinschaft belastend galt. Auch in den anderen europäischen Ländern war die Euthanasie bis Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts tabu. Mit der Legalisierung der Euthanasie in den Niederlanden ging die Tabuisierung der Euthanasie in Europa zu Ende. Das holländische Parlament verabschiedete am 10. April 2001 das Gesetz zur „Überprüfung der Lebensbeendigung auf Verlangen und bei der Hilfe zur Selbsttötung“, das am 1. April 2002 in Kraft trat. Es legalisierte eine Praxis der Euthanasie, die auf dem Umweg einer Änderung des Bestattungsgesetzes und durch Richtlinien der Niederländischen Ärztegesellschaft schon 1994 eingeführt worden war. Allerdings wurde die Euthanasie 2002 mit der Einführung eines Rechtfertigungsgrundes für die Tötung eines Patienten auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt. Galt der Arzt, der einen Patienten tötete, bis Anfang der 90er Jahre als Mörder, dann bis zur Verabschiedung des Euthanasiegesetzes als geduldeter Delinquent, so soll er fortan ein Wohltäter sein, der die Realisierung einer finalen Selbstbestimmung und einen schmerzfreien Tod ermöglicht. Auch Belgien verabschiedete am 28. Mai 2002 ein Gesetz zur Sterbehilfe, das die Euthanasie legalisierte und am 23. September 2002 in Kraft trat.[18] Im Europarat gab es mehrere, bisher im Plenum immer gescheiterte Versuche, Empfehlungen an alle 47 Mitgliedsstaaten zur Legalisierung der Euthanasie nach dem niederländischen und belgischen Vorbild zu beschließen.
Die Argumente zur Begründung der Legalisierungsversuche gleichen jenen, die Anfang der 70er Jahre zur Legalisierung der Abtreibung präsentiert wurden. Zum einen wird behauptet, Euthanasie werde überall und täglich praktiziert, weshalb der Gesetzgeber verpflichtet sei, sie aus der Grauzone der Illegalität herauszuholen und durch eine Legalisierung die Kluft zwischen Recht und Alltag zu schließen. Zum anderen wird behauptet, niemand habe „das Recht, einem todkranken oder sterbenden Menschen die Pflicht aufzuerlegen, sein Leben unter unerträglichen Leiden oder Qualen fortzusetzen, wenn er selbst beharrlich den Wunsch geäußert hat, es zu beenden“.[19] Gegen das erste Argument wäre einzuwenden, dass sich die Kluft zwischen Recht und Alltag in Grundfragen rechtsstaatlichen Zusammenlebens nur dadurch schließen lässt, dass dem hier in Frage stehenden Verbot der Tötung Unschuldiger Geltung verschafft wird. Dies ist auch schon die Antwort auf das zweite Argument. Es geht in der Euthanasie wie bei der Abtreibung nicht um ein Recht, anderen eine Pflicht aufzuerlegen, sondern allein um die Einhaltung des Tötungsverbotes, das die Legitimitätsbedingung des Rechtsstaates ist. Wenn eine Rechtspflicht wie die, die Tötung Unschuldiger zu unterlassen, mit einer Tugendpflicht wie der, anderen – Sterbenden oder Schwangeren – zu helfen, kollidiert, kommt in einem Rechtsstaat und in einer humanen Gesellschaft immer der Rechtspflicht der Vorrang zu.
Die Gesetze, die Euthanasie legalisieren, versuchen die Voraussetzungen zu regeln, unter denen Euthanasie rechtmäßig sein soll. Diese Voraussetzungen sollen die Selbstbestimmung des Patienten gewährleisten. Sein Euthanasiewunsch soll freiwillig, wohlüberlegt und dauerhaft sein und auf vollständiger ärztlicher Aufklärung beruhen. Sein Leiden – sowohl physisches als auch psychisches Leiden – soll unerträglich und ohne Aussicht auf Besserung sein. Es darf keine medizinische Alternative geben und die ärztliche Diagnose und die Prognose müssen durch einen zweiten Arzt bestätigt werden. Nach vollzogener Euthanasie muss der Fall in den Niederlanden an die zuständige Regionale Kontrollkommission gemeldet werden, die aus einem Juristen, einem Mediziner und einem Ethiker besteht und zu prüfen hat, ob der Arzt die im Euthanasiegesetz genannten Sorgfaltskriterien eingehalten hat.
Die mehrfach untersuchte Praxis der Euthanasie in den Niederlanden und in Belgien zeigt, dass die Vorstellung, Euthanasie werde nur bei Vorliegen eines freiwilligen, beharrlichen und wohl überlegten Wunsches des Patienten vorgenommen, eine Illusion ist. In über 20 % der 4632 Euthanasiefälle des Jahres 2001 erfolgte die Euthanasie ohne Einwilligung des Patienten. In rund 25 % der Fälle unterblieb die vorgeschriebene Konsultation eines zweiten unabhängigen Arztes und in ca. 50 % der Fälle unterblieb auch die obligatorische Meldung an die Regionale Kontrollkommission. Dass die Euthanasie auch ohne Verlangen des Patienten praktiziert wird, zeigen nicht nur ähnliche Quoten in früheren, von der niederländischen Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchungen,[20] es wird auch in der Ausweitung der Euthanasie auf Neugeborene und Kleinkinder manifest, die 2004 von einer Gruppe von Neonatologen und Kinderärzten der Universitätsklinik Groningen im so genannten „Groningen-Protokoll“ angestoßen und dann Ende 2005 von den niederländischen Ministern für Justiz und für Gesundheit gleichsam auf dem Verwaltungsweg durch einen Brief an das Parlament geregelt wurde.[21]
Die Legalisierung der Euthanasie verändert das Selbstverständnis der Gesundheitsberufe. Ärzte, Schwestern und Pfleger werden von Helfern der Kranken, die seinen Subjektstatus achten, seine Genesung fördern, ihn im Sterben begleiten und im Angesicht des Todes ihre eigene Ohnmacht akzeptieren, zu Herrschern, die nicht nur die Therapie einer Krankheit wie Manager regeln, sondern auch das Sterben ihrem technischen Zugriff unterwerfen wollen. Das ärztliche Handeln, die Praxis im aristotelischen Sinn, mutiert zur Tötungstechnik. In der Logik dieser Entwicklung liegen die Empfehlungen der Schweizerischen Akademie für medizinische Wissenschaften zum Thema „Suizid unter Beihilfe eines Dritten“ vom Juni 2003, die auf die Ausbildung diplomierter Sterbehelfer hinauslaufen, die für ihre Dienstleistung eine Erfolgs- oder zumindest eine Qualitätsgarantie anbieten. Der Tod „made in Switzerland“ soll so ein Gütesiegel und einen Wettbewerbsvorteil auf dem Euthanasiemarkt gegenüber dem Tode „made in the Netherlands“ erhalten, der, wie der erste Jahresbericht der Regionalen Kontrollkommissionen der Niederlande nach Inkraftsetzung des Euthanasiegesetzes zeigte, 2002 in 26 Fällen der Beihilfe zum Suizid wegen unzureichender Wirkung der angeblich tödlichen Medikamente misslang, so dass die Patienten schließlich doch aktive Sterbehilfe erhielten.[22]
Die Legalisierung der Euthanasie zerstört das Vertrauen des Patienten zum Arzt. Angesichts des hohen Anteils der Fälle unfreiwilliger Euthanasie und der Ausweitung der Euthanasie auf Personengruppen, die ihrer Natur nach unfähig sind, ihre Zustimmung zu erteilen wie Neugeborene und Kleinkinder, kann sich der Patient nicht mehr sicher sein, ob der Arzt seine Gesundung oder wenigstens die Linderung seines Leidens oder aber seinen Tod ansteuert. Wie sehr die Legalisierung der Euthanasie das Vertrauen in die Ärzte zerstören kann, zeigt die Ausbreitung der „Credo-Card“ in den Niederlanden. Die „Credo-Card“ ist ein Ausweis mit dem Namen des Trägers und dem Aufdruck „Maak mij niet dood, Doktor“, der dem Arzt signalisiert, dass der Inhaber bei Äußerungsunfähigkeit auf keinen Fall euthanasiert werden will. Die verstärkte Nachfrage niederländischer Interessenten nach Alters- und Pflegeheimplätzen in Deutschland entlang der deutsch-niederländischen Grenze spiegelt ebenfalls das euthanasiebedingte Misstrauen in die niederländischen Ärzte, vor dem die katholischen Bischöfe der Niederlande schon bei der Einbringung des Euthanasiegesetzes in das Parlament gewarnt haben.[23]
Die Legalisierung der Euthanasie und die Ausbreitung der Patientenverfügungen verändern schließlich auch das Verhältnis des Patienten zu seiner Umgebung. Der schwerkranke Patient wird vom leidenden Subjekt, dem Mitleid und Solidarität der Gesellschaft zuteil werden, zum Objekt, das der Gesellschaft – seinen Angehörigen, seinem Pflegeheim, seiner Krankenkasse – zur Last fällt. Nicht der Patient kann länger das Mitleid der Gesellschaft erwarten, die Gesellschaft erwartet vielmehr das Mitleid des Patienten, der sie von allen Lasten befreien könnte, wenn er nur endlich bereit wäre, den Euthanasiewunsch zu äußern. Schon die Patientenverfügung kann hier zur Falle werden. Je mehr derartige Patientenverfügungen verbreitet sind, desto größer ist die Gefahr einer negativen Selbstbewertung bei alten und kranken Menschen, zumal zahlreiche Formulare solcher Patientenverfügungen gerade in Pflegeheimen einen Behandlungsverzicht für schwerwiegende Krankheiten als Wahlmöglichkeit enthalten. So entsteht ein Druck, den medizinischen, pflegerischen und finanziellen Aufwand zu vermeiden und sich dem Trend zum sozialverträglichen Frühableben anzuschließen. Die Selbstbestimmung mündet über die Patientenver-fügung in die Selbstentsorgung. Die dunkle Ahnung einer solchen Falle scheint weit verbreitet zu sein, weil der Anteil derer, die eine verbindliche Patientenverfügung ihr eigen nennen, trotz vieler Werbekampagnen weder in Deutschland noch in den USA steigen will. „Viele haben einen Vordruck, wenige füllen ihn aus, kaum einer unterschreibt.“[24] Auch wenn 80 % der deutschen Bevölkerung erklären, sie bejahen eine Patientenverfügung, so verfügten 2003 nur 10 % über eine solche.
Die modernen Probleme der Bioethik, die sozialethische Fragen des Lebensschutzes aufwerfen, hängen mit der künstlichen Befruchtung zusammen. Ob es um die Kryokonservierung von Embryonen oder Vorkernstadien geht, um die Präimplantationsdiagnostik, das Klonen oder die Forschung mit embryonalen Stammzellen, für alle diese Entwicklungen der Biomedizin ist die Assistierte Reproduktion der Schlüssel. Ohne die künstliche Erzeugung eines Embryos im Labor wären diese Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen ethischen Probleme gegenstandslos. Neun Jahre nach der Geburt des ersten künstlich erzeugten Mädchens in Großbritannien prüfte die Glaubenskongregation 1987 in der Instruktion „Donum Vitae“ über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung die künstliche Befruchtung zum einen aus der Perspektive der Eheleute oder Paare, die Eltern eines Kindes werden wollen und zum anderen aus der Perspektive des Kindes und seines Rechts auf einen menschenwürdigen Lebensbeginn. Aus beiden Perspektiven kommt die Kirche erneut zu einer Ablehnung der Assistierten Reproduktion. Sie verteidigt den ehelichen Liebesakt in seiner leib-seelischen Einheit als den einzig legitimen Ort, der der menschlichen Fortpflanzung würdig ist. Die Eheleute haben das Recht und die Pflicht, „dass der eine nur durch den anderen Vater oder Mutter wird“.[25] Die Fortpflanzung werde ihrer eigenen Vollkommenheit beraubt, wenn sie nicht als Frucht des ehelichen Liebesaktes, sondern als Produkt eines technischen Eingriffs angestrebt werde. Die Menschenwürde und die aus ihr abgeleitete Pflicht, den anderen Menschen nicht ausschließlich als Instrument - zur Erfüllung des Kinderwunsches - zu benutzen, gebieten eine Form der Fortpflanzung, in dem sich Mann und Frau als Personen begegnen und im biblischen Sinn „erkennen“. Sie gebieten, in Zeugung und Schwangerschaft nicht nur technische Vorgänge, sondern anthropologische Grundbefindlichkeiten zu sehen.[26]
Mit dem ehelichen Geschlechtsakt verteidigt die Kirche zugleich die Würde des Kindes. Das Kind hat das Recht, so „Donum Vitae“, „die Frucht des spezifischen Aktes der ehelichen Hingabe seiner Eltern zu sein“.[27] Selbst wenn man einen Rechtsanspruch des Kindes, auf natürliche Weise gezeugt und nicht im Labor eines Fortpflanzungsmediziners erzeugt zu werden, mit der Begründung ablehnt, niemand könne vor seinem Dasein ein subjektives Recht geltend machen, so lassen sich aus der Menschenwürdegarantie, die jedem Menschen von Beginn seiner Existenz an zukommt, doch Pflichten für die Eltern ableiten, die nicht erst mit der Geburt oder der Nidation des Kindes einsetzen, sondern bereits seine Zeugung betreffen. Die erste Pflicht der Eltern ist die, das Kind vom ersten Augenblick seiner Existenz an als Person zu achten. Es ist weder ihr Produkt noch ihr Eigentum. Dem entspricht ein Recht des Kindes, von der Empfängnis an als Person geachtet zu werden. Es ist Rechtssubjekt. Es hat ein Recht, sein Leben aufgrund einer menschenwürdigen Empfängnis zu beginnen, mithin nicht als zertifiziertes Laborprodukt oder als „Gemächsel“[28] ins Leben zu treten. Die Lehre der Kirche, dass die Assistierte Reproduktion, die das Leben und die Identität des Embryos der Macht der Mediziner und der Biologen anvertraut, „in sich selbst der Würde und der Gleichheit (widerspricht), die Eltern und Kindern gemeinsam sein muss“,[29] wird zunehmend auch von nichtchristlichen Positionen geteilt, so von Jürgen Habermas, der durch die Präimplantationsdiagnostik die Symmetrie der Beziehungen gefährdet sieht,[30] oder von Theresia Maria de Jong, die aus einer feministischen Position heraus für ein „Recht des Kindes auf eine natürliche Empfängnis“[31] eintritt.
Doch auch dann, wenn ein Kind nach künstlicher Befruchtung, mithin als Produkt eines Reproduktionsmediziners, ins Leben tritt, hat es von der Empfängnis an die gleichen Rechte wie jedes andere Kind. „Von der Empfängnis an“ - das gilt nicht nur für den Embryo in utero, sondern auch für den Embryo in vitro. Sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. haben wiederholt unterstrichen, dass das menschliche Leben „in jedem Augenblick seiner Existenz, auch in jenem Anfangsstadium, das der Geburt vorausgeht, heilig und unantastbar (ist)“.[32] Dieses moralische Urteil, so Benedikt XVI., gilt „vom Beginn des Lebens eines Embryos an, noch vor dessen Einnistung im mütterlichen Schoß“.[33] Daraus folgt, dass das Verbot, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu berauben, auch für den Embryo in vitro gilt. Es kann „weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck gestattet werden“, ihn zu töten.[34] In der Logik dieses Ansatzes liegt es, dass alle an die Assistierte Reproduktion anknüpfenden Entwicklungen, wie die embryonale Stammzellforschung, die Präimplantationsdiagnostik und das Klonen für die Kirche moralisch verwerflich sind, da sie alle mit der Tötung des Embryos verbunden sind. Der Zweck kann nie die Mittel heiligen. Wenn das Gebot, Kranke zu heilen, mit dem Verbot, Unschuldige zu töten, kollidiert, hat immer und unter allen Unständen letzteres den Vorrang. Keine Therapie, und sei sie noch so phantastisch, kann es rechtfertigen, einen unschuldigen Embryo, und sei er noch so chancenlos im Hinblick auf einen Transfer in eine Gebärmutter, zu töten.
Die Assistierte Reproduktion hat sich nach dem ersten Erfolg 1978 in Großbritannien völlig ungeregelt ausgebreitet. In Deutschland sind seit der ersten Geburt nach künstlicher Befruchtung 1982 in der Erlanger Universitätsklinik bis 2005 etwa 110.000 Kinder auf diese Weise erzeugt worden. In den vergangenen Jahren waren es jährlich etwa 6.700 Kinder bei knapp 60.000 Behandlungszyklen. Die Erfolgsquote ist also sehr gering.[35] Die Assistierte Reproduktion ist auch heute noch trotz der inzwischen erwiesenen hohen Risiken für Mutter und Kind in vielen Ländern völlig ungeregelt. Der Kinderwunsch ist auf der einen Seite so stark, dass er alle Risiken ignoriert, auf der anderen Seite gilt er als so privat, dass der Gesetzgeber sich in vielen Ländern, vor allem in den USA, scheut, seinen Kontroll- und Regelungsaufgaben nachzukommen.
In Deutschland hat der Gesetzgeber durch das Embryonenschutzgesetz vom 13. Dezember 1990 wichtige Restriktionen für die Assistierte Reproduktion eingeführt, die den Zweck haben, den außerhalb des Mutterleibes erzeugten Embryo in seinem Lebensrecht und in seiner Menschenwürde zu schützen. Embryonen dürfen nur zum Zweck einer Schwangerschaft bei der Frau, von der die Eizelle stammt, künstlich erzeugt werden. Eine Leihmutterschaft ist also ebenso verboten wie die Herstellung von Embryonen für Forschungszwecke. Letzteres würde den Embryo zum Objekt für andere werden lassen und damit gegen die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1
GG verstoßen. Es dürfen nach § 1 Abs. 1 Ziffer 3 des Embryonenschutzgesetzes auch nur drei Embryonen auf eine Frau übertragen werden.[36]
Das Stammzellgesetz vom 28. Juni 2002 verfolgt zwei Ziele, die durchaus in Spannung miteinander stehen. Es will einerseits den Embryonenschutz im Zusammenhang mit der Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen sicherstellen und verbietet deshalb die Einfuhr von embryonalen Stammzellen, die die Fähigkeit besitzen, sich in einem entsprechenden Nährmedium durch Zellteilung unbegrenzt zu vermehren, wovon sich die Biomedizin neue Therapiemöglichkeiten für bisher unheilbare Krankheiten verspricht. Die Herstellung solcher Zellen ist in Deutschland bereits durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Andererseits will das Stammzellgesetz die Freiheit der Forschung gewährleisten und erlaubt deshalb die Einfuhr von Stammzellen für „hochrangige Forschungsziele“, sofern diese Zellen vor dem im Gesetz festgelegten Stichtag 1. Januar 2002 hergestellt wurden. Der Stichtag soll einerseits sicherstellen, dass von deutschen Forschungsinteressen kein Anreiz ausgeht, weitere Embryonen zwecks Gewinnung von Stammzellen zu töten. Andererseits besagt er, dass die Tötung jener Embryonen, von denen die importierten Stammzellen kommen, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Die Kontroversen um die Forschung mit embryonalen Stammzellen haben deutlich werden lassen, dass die Assistierte Reproduktion die Quelle der Probleme ist. Die künstliche Befruchtung ist selbst für die Deutsche Forschungsgemeinschaft der „Rubikon“, mit dessen Überschreiten sich die Reproduktionsmedizin in das Dilemma zwischen Lebensschutz und Forschungsfreiheit gebracht habe.[37] Nichtsdestrotrotz gibt es gelegentlich zaghafte Stimmen, die die Assistierte Reproduktion in Frage stellen, so von Wolfgang Frühwald, dem Vorgänger von Winnacker als DFG-Präsident, von Wolfgang Huber, dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland und von seinem Vorgänger Manfred Kock, der öffentlich erklärte, es sei ein Fehler der EKD gewesen, die In-Vitro-Fertilisation zu akzeptieren.[38]
Alle in der Debatte um die embryonale Stammzellforschung präsentierten Argumente für einen anderen Beginn des menschlichen Lebens als die Empfängnis sind deshalb willkürlich, sei es die Nidation, der Beginn der Gehirntätigkeit, die Schmerzempfindlichkeit, die Diskurs- oder Kommunikationsfähigkeit, die extra-uterine Lebensfähigkeit oder die Geburt. Besonders deutlich wird diese Willkür in den unterschiedlichen Fristen, bis zu denen der Embryo in vielen Ländern keinen staatlichen bzw. rechtlichen Schutz genießt. Wenn Personsein, Menschenwürde, Zugehörigkeit zur Rechtsgemeinschaft und Schutzpflicht des Staates davon abhängen, eine bestimmte Etappe der Entwicklung abgeschlossen zu haben, muss jeder fürchten, seinen Status als Person und damit den Anspruch auf Anerkennung sowie auf staatlichen Schutz zu verlieren, wenn er eine neu definierte Zulassungshürde nicht überwindet. Der Mensch ist deshalb von der Empfängnis an Person - auch der Embryo in vitro. Er hat Würde und Würde ist Anspruch auf Achtung. „Kein Mensch (muss) sich sein Lebensrecht oder seine Menschenwürde erst durch seine Fähigkeiten oder Leistungen verdienen.“ Sie sind ihm vielmehr „mit seinem Dasein gegeben“, erklärten 14 katholische und evangelische Sozialethiker in einer gemeinsamen Erklärung 2006.[39] Der Status der Person stehe und falle damit, so Robert Spaemann, „dass er nicht verliehen wird, sondern dass jede Person kraft eigenen Rechts in den Kreis der Personen eintritt“. Wenn Menschenrechte verliehen oder eingeräumt würden, „dann gibt es sie gar nicht. Denn dann ist es eine Frage der Definitionsmacht, wem diese Rechte zuerkannt werden und wem nicht“.[40]
Die Assistierte Reproduktion und die embryonale Stammzellforschung werfen eine Reihe gravierender sozialethischer Probleme auf. Die Assistierte Reproduktion widerspricht einer wesentlichen Voraussetzung humaner zwischenmenschlicher Beziehungen: dem Gleichheitsprinzip. Das aus ihr hervorgehende Kind wird zwar von seinen Eltern gewünscht. Das unterscheidet es nicht von den meisten natürlich gezeugten Kindern. Aber es ist im Unterschied zu diesen nicht die Frucht eines ehelichen Liebesaktes, die zwar erhofft, aber nie gemacht werden kann, sondern das Produkt des Reproduktionsmediziners und der Gametenspender, die sich ihm anvertrauen. Es verdankt seine Entstehung einem technischen Verfügungs- und Herrschaftswissen, einer „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer), die schon Aristoteles als Poiesis deutlich von der Praxis als dem richtigen Handeln des Menschen im Hinblick auf sein höchstes Ziel unterschied. Als Produkt aber befindet sich der Mensch in einer existentiellen Abhängigkeit von denen, die ihn machen. Der Beginn seiner Existenz steht unter dem Vorbehalt des Willens der Gametenspender und des Wissens des Fortpflanzungsingenieurs. Dies gilt für jede IVF-Behandlung, also nicht nur für jene, die mit einer Präimplantationsdiagnostik verbunden wird. Diese bedingte Existenz widerspricht der Symmetrie der Beziehungen, die eine wesentliche Voraussetzung für interpersonale Beziehungen und für den egalitären Umgang von Personen ist. Sie widerspricht seiner fundamentalen Gleichheit wie auch seiner Freiheit. Sie verletzt auch das Prinzip der Gerechtigkeit, das sich in der Goldenen Regel niederschlägt, nach der jeder von den Mitmenschen anerkannt werden will, „nicht weil seine Existenz einem Wunsch oder Gefallen dieser anderen entspricht, …sondern …aufgrund seiner bloßen Existenz“.[41] Die künstliche Befruchtung widerspricht deshalb nicht nur dem Gleichheitsprinzip, sondern auch der Menschenwürdegarantie, auch wenn der künstlich erzeugte Mensch zum geliebten Kind seiner Eltern wird und als Mitbürger die gleichen Rechte und Pflichten hat wie jeder andere.
Die Assistierte Reproduktion zerstört Ehe und Familie. Das zeigt nicht nur die Scheidungsrate bei Ehepaaren, die sich der künstlichen Befruchtung unterziehen und die mehr als doppelt so hoch ist wie bei anderen Ehepaaren, sondern vor allem die Möglichkeit der anonymen und auch vielfachen Elternschaft. Das Kind kann bis zu drei Mütter und zwei Väter haben: die beiden Gametenspender, die Leihmutter für die Schwangerschaft, die „soziale“ oder Pflegemutter nach der Geburt und den Pflegevater. Die Assistierte Reproduktion verwischt die Generationenfolge, deren Kenntnis für das Kind eine Bedingung seiner Identitätsfindung ist.[42] Sie macht das Kind zum Dekor seiner Eltern.
Die Assistierte Reproduktion bahnt schließlich den Weg in die „schöne neue Welt“, in der der Mensch den Menschen nach seinem Bild produziert. Sie ermöglicht nicht nur das „family balancing“, d.h. die Wahl des Geschlechts des Kindes, sondern auch die Beeinflussung seiner Eigenschaften. Aldous Huxley hat diese Vision schon 1932 in seinem Roman „Schöne neue Welt“ beschrieben. Die Menschen, eingeteilt in Alpha-, Beta-, Gamma- und Epsilonmenschen, werden ausnahmslos in der Brut- und Normzentrale der Hauptstadt in vitro erzeugt und für ihre jeweilige Dienst- oder Herrschaftsklasse programmiert. Nur in einem Reservat im wilden Westen Amerikas leben noch Ureinwohner aus den „Zeiten roher Fortpflanzung“, die am Lebendgebären festhalten.[43]
Die Forschung mit embryonalen Stammzellen wirft ebenfalls eine Reihe sozialethischer Probleme auf. Sie bedient sich der künstlich erzeugten Embryonen als Rohstoff für die Gewinnung der Stammzellen bzw. die Entwicklung neuer Therapien für bisher unheilbare Krankheiten. Diesen Zugriff auf kryokonservierte, „verwaiste“ oder eigens zu Forschungszwecken hergestellte Embryonen kritisiert die katholische Soziallehre als Instrumentalisierung des Menschen in seiner frühesten Lebensphase. Die Ethik des Heilens und das Recht auf Forschungsfreiheit haben eine gemeinsame Grenze: das Lebensrecht des Embryos bzw. das Verbot, Unschuldige zu töten. Dies ist eine Konstitutionsbedingung des Rechtsstaates. Zu den Konstitutionsbedingungen des Rechtsstaates gehört auch das Verbot der Sklaverei. Die Assistierte Reproduktion aber macht die so genannten überzähligen Embryonen zu den Sklaven des 21. Jahrhunderts. Sie beansprucht ein Verfügungsrecht über diese Embryonen. Sie setzt damit voraus, sie könnten wie eine Sache behandelt werden, über die wie über jedes Eigentum frei verfügt werden kann. Aber weder die Eltern noch die Reproduktions-mediziner sind Eigentümer dieser Embryonen. Eigentumsansprüche können sich nur auf Sachen, nie auf Menschen beziehen, auch wenn diese noch so klein, äußerungsunfähig und hilflos sind.[44] Eigentumsansprüche auf Menschen zu erheben, heißt sie versklaven. Die embryonale Stammzellforschung gehört deshalb wie die Abtreibung und die Euthanasie zu den Entwicklungen, die die Legitimität der rechtsstaatlichen Demokratie in Frage stellen. Keine Mehrheitsentscheidung kann sie rechtfertigen. Diesen Entwicklungen entgegenzutreten ist die Aufgabe der katholischen Soziallehre und der kirchlichen Verkündigung. Der Marsch in eine posthumane Zukunft ist nicht unabwendbar. Die verbreitete Ansicht, der technische Fortschritt ließe sich nicht aufhalten oder nationale Regeln seien angesichts der Globalisierung ineffizient, nach Francis Fukuyama das größte Hindernis bei der humanen Regulierung der Biotechnologie[45], ist überwindbar, wie nicht nur das italienische Beispiel einer Revision der Reproduktionsmedizingesetzes 2004 zeigt. Wer über den Rubikon der In-Vitro-Fertilisation gegangen ist, muss nicht im Reich der Präimplantationsdiagnostik, der embryonalen Stammzellforschung, des Klonens und der Zertifizierung der Zeugung weitermarschieren. Er kann auch umkehren. Die Menschenwürde und der Rechtsstaat gebieten eine solche Umkehr.